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Neues Jobwunder?

Warum die Arbeitsmarktstatistik die Lage schönt, die prekäre Beschäftigung boomt und ein arbeitsmarktpolitischer Kurswechsel nötig ist / Von Sabine Zimmermann

Regierung und Wirtschaft sprechen angesichts fallender Arbeitslosenzahlen von einem neuen Jobwunder. »Deutschland ist im Aufschwung. Wir haben gute Chancen, einen goldenen Herbst am Arbeitsmarkt zu erleben«, so Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP). In Bayern und Baden-Württemberg gebe es »quasi Vollbeschäftigung«. Die Wirklichkeit ist allerdings eine andere. Es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen.

Scheinstatistik
Aktuell weist die offizielle Arbeitsmarktstatistik etwa drei Millionen Arbeitslose aus, was einer Arbeitslosenquote von gut sieben Prozent entspricht. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Über eine Million Erwerbslose sind arbeitslos gemeldet, werden aber von der Statistik nicht erfasst. Sie stecken in einem Ein-Euro-Job oder in einer Weiterbildung, sind bei einem privaten Arbeitsvermittler gemeldet oder befinden sich in einer vorruhestandsähnlichen Regelung. Tatsächlich liegt die Unterbeschäftigung bei über vier Millionen und damit bei zehn Prozent. Dazu kommt noch die sogenannte »Stille Reserve«: Hunderttausende, die sich aus verschiedenen Gründen bei der Arbeitsverwaltung nicht arbeitslos melden.
Zur Scheinstatistik gehört auch der sogenannte demografische Effekt. Weil derzeit mehr ältere Arbeitskräfte ausscheiden, als junge nachkommen, wird das Arbeitskräfteangebot laut Bundesagentur von 2008 bis 2010 um 400.000 entlastet.
Dennoch ist anzuerkennen: Der Arbeitsmarkt hat zur Verwunderung fast aller die Krise erstaunlich gut überstanden. Dies lag vor allen Dingen an arbeitszeitverkürzenden Maßnahmen wie Überstundenabbau, tariflicher und gesetzlicher Kurzarbeit. Diese Erfahrung der Arbeitszeitverkürzung sollten wir für unsere Vorschläge zur Arbeitsmarktpolitik berücksichtigen.

Mehr Beschäftigung – aber welche?
Wenig erstaunlich ist, dass mit der Wirtschaft auch wieder die Beschäftigung wächst. Aber auch hier lohnt es sich, ganz genau hinzugucken. Wie schon im letzten Aufschwung nach 2005 droht ein Boom von Billigjobs und die Verdrängung regulärer Jobs. Seit Jahren wächst die sogenannte atypische Beschäftigung. Das statistische Bundesamt zählt dazu alle Beschäftigungsverhältnisse jenseits eines unbefristeten Vollzeitarbeitsplatzes: Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Minijobs und Teilzeit. Der Anteil der atypischen Beschäftigung an allen Arbeitsverhältnissen stieg von 2003 bis 2008 von 19 Prozent auf 22 Prozent, 1998 lag sie noch bei 16 Prozent. Damit breiteten sich auch die Armutslöhne aus. Denn jeder zweite atypisch Beschäftigte erhält einen Bruttostundenlohn unter der Niedriglohngrenze.
In der Krise wurde der Boom atypischer Beschäftigung zwischenzeitlich gestoppt. Die Leiharbeitskräfte und befristet Beschäftigten gehörten zu den ersten, die gehen mussten. Nun droht dieser Wahnsinn erneut zu beginnen, nur schneller und auf einem höheren Niveau. Schon im Juni dieses Jahres wurde mit geschätzten 826.000 Leiharbeitskräften der alte Rekord vor der Krise eingestellt. Die aktuelle Struktur der gemeldeten offenen Stellen spricht eine deutliche Sprache: Nach Daten der Bundesagentur waren im September 2010 nur noch 61,6 Prozent aller neu gemeldeten Arbeitsstellen unbefristete Vollzeitstellen. Im September 2003, dem Vergleichsmonat nach der letzten Krise, waren es noch 66 Prozent. Dramatisch ist nicht nur der Anstieg bei der Leiharbeit von 19 Prozent auf 35 Prozent aller gemeldeten Stellen. Jede fünfte gemeldete Stelle ist befristet. 2003 lag dieser Wert bei 15 Prozent.
Eine Ursache für diese Entwicklung ist leicht auszumachen: die Hartz-Gesetze. Mit ihnen wurde der Arbeitsmarkt dereguliert, der Druck auf das Normalarbeitsverhältnis erhöht. Es war das explizite Ziel von Schröders Agenda 2010, den Niedriglohnsektor zu fördern. Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Minijobs etc. sind dabei nur eine Seite der Medaille. Die andere ist das Lohndrückerprogramm Hartz IV. Hier geht es nicht allein darum, Millionen Menschen in Armut zu halten und zu demütigen. Mit der Angst, beim Jobverlust schnell und tief zu fallen und jede auch noch so schlechte Arbeit annehmen zu müssen, werden die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften diszipliniert und geschwächt.
Deutschland hat inzwischen einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Dass dieser Trend anhält, belegt die Zunahme der sogenannten Aufstocker, also der Menschen, die arbeiten, aber so wenig Lohn erhalten, dass sie gezwungen sind, ihr Einkommen ergänzend durch Hartz IV aufzustocken. Trotz wirtschaftlicher Erholung seit dem Frühjahr 2009 stieg ihre Zahl um über 100.000 auf nunmehr 1,4 Millionen. Nicht nur der einzelne Beschäftigte, auch die Gemeinschaft zahlt einen hohen Preis: elf Milliarden Euro, soviel Geld gab der Staat für lohnergänzende Leistungen aus.

Wir glauben nicht an Wunder
Nur ein politischer Kurswechsel kann den Boom von Billigjobs stoppen und mehr gute Beschäftigung schaffen. Wenig verwunderlich hält Schwarz-Gelb weiter neoliberalen Kurs. Davon zeugen kosmetische Korrekturen bei der Leiharbeit, die die IG Metall zu Recht als »Kniefall vor der Arbeitgeberlobby« bezeichnete, ebenso wie die Festschreibung der neuen Hartz-IV-Regelsätze auf 364 Euro. Sie wollen, dass wir uns an diese Verhältnisse gewöhnen. Darauf kann es von der LINKEN nur ein klares Nein geben.
Statt auf ein Jobwunder zu hoffen, fordern wir: Ein gesetzlicher Mindestlohn ist einzuführen, Leiharbeit strikt einzudämmen und das Gleichbezahlungsprinzip durchzusetzen, Minijobs sind durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ersetzen. Das Lohndrückerprogramm Hartz IV ist durch eine Arbeitslosenversicherung abzulösen, die ihren Namen verdient, und die Arbeitszeitfrage ist wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Hierfür gilt es, zusammen mit anderen gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Denn: Wir glauben nicht an Wunder.

Sabine Zimmermann ist die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion.
Der Artikel ist im Disput Oktober 2010 erschienen.

Siehe auch:
Arbeitsmarktbericht September 2010
Disput - Monatszeitschrift der Partei DIE LINKE.
Online-Shop der Partei DIE LINKE.


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