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Nationalstaatliche Politik - eine Alternative?

Helmut Scholz in EU-Parlament

Helmut Scholz ist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2009 und Helmut, Du bist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2009 und stellt sich erneut zur Wiederwahl. Er ist aussichtsreicher Kandidat aus dem Land Brandenburg für das „so ferne Parlament“. Das Interview soll seine bisherige Tätigkeit und Ansprüche an europäische Politik näher bringen und auch, was die Menschen „von Europa haben“.
Das Interview führte Frithjof Newiak aus Cottbus.

EU contra Kommune?

Die Europawahlen wurden mit den Kommunalwahlen terminlich verbunden. Ist das nicht ungeschickt, Wahlen für ein globales Gremium mit einem regionalen zusammenzulegen?
Nein, denn das neu gewählte Europäische Parlament (EP) wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch Brandenburg und seine Kommunen beeinflussen – das EP wirkt vor Ort! Daher begrüße ich den gemeinsamen Termin zur Wahl des EP mit der Kommunalwahl in Brandenburg. Beide Ebenen wirken zusammen und haben auch durchaus Parallelen: Ob nun im EP oder in einer Gemeindevertretung, jedes Thema sucht sich seine Mehrheiten neu. Nur sehr wenig ist wirklich schon im Vorfeld fest oder gar durch die Rollenverteilung „Regierung-Opposition“ vorbestimmt. Daher gehören Europa und die europäische Politik zum Handwerkszeug von kommunalpolitischer Aktivität und so ist auch die Verknüpfung beider Wahltermine miteinander sinnvoll. Themen, die für die Kommune auf der Agenda stehen, können so direkt in einen europäischen Kontext gesetzt werden. Ein gemeinsamer Fokus kann die verschiedenen Ebenen verknüpfen und die politische Debatte bereichern. Und die möglicherweise höhere Wahlbeteiligung sollte man bei kombinierten Wahlen ebenso nicht außer acht lassen.
Zusätzlich ist es natürlich auch effizienter: Man spart Zeit, den zusätzlichen Einsatz von Wahlhelferinnen und Wahlhelfern und nicht zuletzt auch Geld, wenn man die Termine kombiniert.

Wenn die Tätigkeit der Kommunen so stark durch die EU beeinflusst wird, ist doch die Frage, welcher Handlungsspielraum da überhaupt noch besteht?
Da verhält es sich ähnlich wie mit der Beziehung des Bundestags (bzw. Landtags) zur Kommune. Das EP gibt den globalen Kontext vor, setzt die Richtlinie. Die konkrete Ausgestaltung, die Differenzierung im Kleinen, erfolgt aber vor Ort. Das EP will, kann und darf ja auch gar nicht in jedes Detail „Reinregieren“, das ist ein falsches Bild. Das EP gibt eine Art Richtschnur vor - einen Mindeststandard unter dem es dann in der EU bzw. den Mitgliedsstaaten nicht gehen darf. Was man dann vor Ort konkret damit macht und wie weit man geht (denn ein „Mehr“ geht immer) bleibt in regionaler bzw. kommunaler Hoheit. Das ist richtig und finde ich gut, denn auch für mich ist die Kommunalpolitik das Kronjuwel linker Politik.
Dass für gestaltende Kommunalpolitik auch finanzielle Mittel vorhanden sein müssen, versteht sich von selbst. Für die Finanzausstattung der Kommunen ist aber der nationale Gesetzgeber zuständig, nicht das EP. Insofern sind die Adressaten bei der Frage nach Handlungsspielräumen der Bund und das Land.

Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist sehr stark durch ihren meist schmalen Finanzrahmen bestimmt und dazu gibt es die Reglementierungen durch die EU. Schränkt das die Kommunen nicht zusätzlich ein?
Wie gerade schon gesagt: Die Grenzen setzt hier eher die Bundes- und Landespolitik, nicht das EP. DIE LINKE kritisiert den Bund zum Beispiel stark für seine Politik, die dafür sorgt, dass die Sozialausgaben immer weiter steigen - in diesem Jahr auf gute 60 Mrd. Euro, soweit ich weiß. Wenn gleichzeitig rund 80 Prozent dieser Kosten auch noch von den Landkreisen und kreisfreien Städten getragen werden müssen, läuft da schon was falsch, finde ich.
Wie ich das meine? Mit einem auskömmlichen bundesweiten Mindestlohn müssten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch zusätzlich zum Amt und aufstockende Leistungen beantragen. Hier muss man gegensteuern!
Das Land Brandenburg unter Rot-Rot hat hier im Rahmen seiner begrenzten finanziellen Möglichkeiten schon einiges zum Ausgleich für die Kommunen getan, finde ich. Der kommunale Finanzausgleich sorgt zum Beispiel dafür, dass reichere Kommunen in einen Topf einzahlen, aus dem dann ärmere Kommunen einen Ausgleich erhalten. Das ist Solidarität! Auch das Land selbst gibt an seine Kommunen mehr Geld als frühere Landesregierungen (unter anderen Parteikonstellationen) und baut trotzdem im Rahmen seiner Möglichkeiten die Schulden der Vorgängerregierungen ab! Der größte Brocken ist immer noch die Bundespolitik. Sie hat die größten Auswirkungen und hier muss der Wechsel her!

Welchen Nutzen haben die Kommunen konkret? Was wäre ohne EU nicht möglich gewesen? Welche Beispiele gibt es in Brandenburg?
Da kann ich eine fantastische Internetseite empfehlen: www.das-tut-die-eu-fuer-mich.eu. Hier findet sich sehr detailliert aufbereitet, was die EU in den letzten Jahren konkret bei uns vor Ort bewirkt und unterstützt hat. Und das ist eine Menge! Beispiel Cottbus, so ist auf dieser Internetseite zu lesen: „Aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung erhielt die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg rund 5,7 Millionen Euro für ein Projekt, bei dem erforscht werden sollte, inwieweit Sonnenenergie in Elektroautos gespeichert werden kann. (…)
Als Mitglied der Euroregion Spree-Neiße-Bober profitiert die Stadt Cottbus zusammen mit der polnischen Partnerstadt Zielona Góra von EU-Fördermitteln für den Erhalt von Natur- und Kulturerbe. So wird etwa die Wiederherstellung und Pflege der historischen Parkanlagen Branitz und Zatonie aus EU-Mitteln unterstützt. Die Maßnahmen kommen sowohl dem Tourismus der Stadt, als auch der Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zugute.
Auch der Tierpark Cottbus profitierte von EU-Geldern. So konnte beispielsweise das neue Tigerhaus errichtet werden. An den Kosten von etwa 1,1 Mio. Euro beteiligte sich die EU mit einer Förderung von rund 850 000 Euro. Auch die Errichtung des Freigeheges der Tiger wurde mit 320 000 Euro von der EU unterstützt.“
Und auch zu Spree-Neiße gibt es dort zu lesen: „Die berühmten Spreewälder Gurken sind neben dem Spreewälder Meerrettich eine von zwei geschützten geografischen Angaben (g.g.A.) in der Spreewaldregion, wo sie seit Jahrhunderten angebaut werden. Ein neues Projekt, das von der EU gefördert wird, soll Lösungen für Probleme mit Ertragsausfällen, Schaderregern und Konservierung finden. Dadurch sollen Qualität und Menge der Gurken nachhaltig gesichert werden.
Mit Blick sowohl auf die Umwelt als auch auf zwischenmenschliche Begegnungen wurde 2016 der Gräbendorfer Garten in Casel mit finanzieller Unterstützung der EU erweitert. Infotafeln mit Grafiken und Texten auf Deutsch und Sorbisch vermitteln Wissen über Kräuter, Blumen und Bäume. Der Gräbendorfer Garten soll Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die Vielfalt der Natur aufzeigen und darstellen, wie man diese am besten schützt.“
Ich finde, das ist nicht wenig und muss noch viel stärker publik gemacht werden! Wir haben alle etwas von der EU!

Sind sich die Kommunalpolitiker*innen dieser Möglichkeiten bewusst oder erfordert es noch weiterer Aufklärung und wer kann die leisten?
Wir alle, jede und jeder kann und muss diese Arbeit leisten. Die Politikerinnen und Politiker, indem sie mit den Bürgerinnen und Bürgern das Gespräch suchen und Zusammenhänge erklären. Die Bürgerinnen und Bürger, indem sie sich für Politik interessieren und aktiv einbringen, ihre Stimme erheben und klare Forderungen an uns in der Politik stellen. Wir als LINKE wollen, dass Menschen sich wieder stärker einmischen, europäisch wie vor Ort, und Gesellschaft aktiv gestalten. Die Zeit bis zur Wahl am 26. Mai 2019 muss genutzt werden, um über die Arbeit des EP weiter aufzuklären und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, welche Wirkung die europäische Politik entfaltet. Ich versuche, so oft wie es mir möglich ist, in meinem Wahlkreisen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern unterwegs zu sein und mit den Leuten zu sprechen. Den Menschen muss gezeigt werden, dass es Gründe für ihre Beteiligung an der Wahl des EP gibt. Es bedeutet, sich selbst eine Stimme und Gehör in der Europäischen Union und dessen Parlament zu verschaffen, mitzugestalten an der europäischen Zukunft.
Mir ist klar, EU-Politik gehört weiterentwickelt und verbessert. Das erfordert aktive Beteiligung und Einmischung der Bürgerinnen und Bürger. Und so ist Wahlbeteiligung und Einmischung auch für alle Brandenburgerinnen und Brandenburger wichtig, denn das neu gewählte EP wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch den Alltag in Brandenburg beeinflussen – das EP wirkt vor Ort!
Mich stört aber insbesondere eine immer wieder zu hörende mangelnde Differenziertheit. So heißt es im Protest oft „Die da oben haben …“ oder „Die in Brüssel haben …“. So ist es ja nun nicht! Erst einmal sind es nicht immer nur „Die“, sondern ganz bestimmte politische Mehrheiten und Konstellationen. Es gibt immer eine andere Meinung und politische Parteien, die für diese stehen und um ihre alternative Position bei Wählerinnen und Wähler werben.
Dazu kommt, dass in Brüssel viel mehr Politik national gemacht wird, als alle denken. Die Regierungen aller Mitgliedsländer, so auch die deutsche Bundesregierung mit ihrer Großen Koalition, sitzen im EU-Ministerrat zusammen an einem Tisch. Entscheidungen werden hier in der Regel einstimmig getroffen und wirken EU-weit. Es ist also teilweise schon schizophren, wenn deutsche Regierungspolitik auf Europa schimpft. Als Sündenbock ist die europäische Ebene, die sich entfernter anfühlen kann, als die nationale, eben willkommen.
Hier sind Aufklärung und Redlichkeit gefordert: Von uns Politikerinnen und Politikern beim Erklären der Zusammenhänge und von den Bürgerinnen und Bürgern beim Interessieren für europäische Politik. Ein dickes Brett, ich weiß. Aber ich würde nicht noch einmal für das EP kandidieren, wenn ich nicht Optimist wäre.

Nationalstaatliche Politik - eine Alternative?

In vielen Ländern ist eine Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik und Abkehr von der EU zu beobachten. Am deutlichsten ist das am Brexit festzumachen. Ist die EU damit gescheitert?
Es stimmt leider, dass in vielen Ländern nationalistische Kräfte stärker geworden sind. Wir dürfen diese geschichtsvergessenen Parteien aber auch nicht stärker reden, als sie sind. Laut dem Statistikamt Eurobarometer halten acht von zehn Deutschen die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache. Europaweit teilen 63 Prozent der EU-Bevölkerung diese Ansicht. Das ist der beste je gemessene Wert.
Vielleicht führt gerade der Brexit vor Augen, wie absurd die Forderung nach Verlassen oder Abschaffen der Europäischen Union ist. Es sind egoistische, extrem wertkonservative Kräfte, die mit finanzieller Unterstützung von sehr reichen alten Männern die britische Debatte zum Brexit geprägt haben. Es handelt sich nicht um eine rationale Debatte über die Europäische Union, sondern das Schwelgen in Erinnerungen an das Empire und die Wiederwahl im eigenen Wahlkreis.
Ein weiterer markanter Anteil der Stimmen für einen Austritt Britanniens aus der EU basierte jedoch auf sozialem Protest. Man muss zwar einräumen, dass die EU eigentlich nicht schuld ist an der Misere des britischen Gesundheitssystems, an überteuerten Mieten, an der schlechten Situation von Alleinerziehenden. Das sind bislang alles nationale oder lokale Entscheidungen.
Dennoch bringt der Protest zum Ausdruck, was sich die Menschen eigentlich von ihrer Europäischen Union erhoffen würden. Wir müssen ihre Forderungen aufgreifen und die Prioritäten der gemeinschaftlichen Politik verändern. Der Mehrwert von Europa muss deutlich erlebbarer sein. Dafür braucht es vor allem eine sozialpolitische Initiative. Wir brauchen eine deutliche Steigerung der Einkommen in den ärmeren Mitgliedstaaten unserer Union. Im Lissabon-Vertrag haben Briten, Christdemokraten und Liberale leider der Kommission schriftlich untersagt, einen Vorschlag für einen europäischen Mindestlohn zu unterbreiten. Aber wo ein Wille ist, können die Regierungen der Mitgliedstaaten Vereinbarungen treffen. Bei Rüstungsunion und Bankenrettung konnten sie das ja auch.

Welche Ursachen siehst Du für die Hinwendung zu nationalstaatlicher Politik?
Wir beobachten hier drei Phasen. Es gibt eine gutbürgerliche Mittelschicht, die keine Veränderungen mag. Diese Leute sind dagegen, dass in ihrer Nachbarschaft eine Flüchtlingsunterkunft oder ein Frauenhaus eröffnet werden, weil es ja den Wert ihres Hauses mindern könnte. Sie mögen auch keine Veränderung durch Mobilität und Migration. Sie mögen keine Menschen, die anders aussehen, anders leben, oder anders lieben. Die Herren Lucke und Henkel haben diesem wertkonservativen Bürgertum ein Ventil angeboten. Das Reden über die Mentalitätsunterschiede zu den Mittelmeerstaaten Europas, mit denen man deshalb nicht gemeinsam im Euro sein könne, machte auch Stimmen salonfähig, die in ihrer Feindseligkeit und Angst vor allem Fremden noch viel weiter gehen und die in der deutschen Fußballnationalmannschaft wieder nur weiße Jungs sehen wollten. Dann kam Trump und attackierte ganz direkt jede Form von politischer Korrektheit und Gleichberechtigung in der Sprache. Er löste damit international einen Überbietungswettbewerb der schlimmsten verbalen Attacken aus. Die politische Sprache der aufstrebenden Rechten in Italien, Spanien, den Niederlanden, Schweden, Ungarn, Deutschland, Griechenland, Brasilien und auch Israel soll einschüchtern. Deshalb gilt es für uns nun erst recht, dem aufrecht entgegenzutreten. In dieser Europawahl ist die Teilnahme an der Wahl auch ein Stück anti-faschistischer Kampf. Und es ist auch die Herausforderung, einer von jenen Kräften beabsichtigten und schon in Angriff genommenen geistig-konservativen Wende weg von vielen erreichten zutiefst demokratischen Grundwerten entgegenzutreten.

Es ist also nicht nur ein Kommunikationsproblem. Ist es aber ein Problem falscher Politik oder liegt der Fehler bereits in der Gründung der EU?
Die Ausrede mit dem Kommunikationsproblem lasse ich nicht zu. Es gab politische Entscheidungen, die waren schlicht falsch. Zum Beispiel die grausamen Sparauflagen für Griechenland und Portugal. Der damalige Bundesfinanzminister Schäuble hat auf europäischer Ebene eine neoliberale Politik durchgesetzt, mit der Regierungen gezwungen wurden, ihre öffentlichen Dienstleistungen zu privatisieren. Das war eine konkrete schlechte Entscheidung von konkreten politischen Handelnden und Parteien. Wir sollten das betonen und ihnen in unserer Kritik nicht die abstrakte EU als Tarnkappe anbieten.
Was es aber aus meiner Sicht gibt, ist ein Problem im Schulunterricht. Die Bürgerinnen und Bürger sollten schon in der Schule erklärt bekommen, wie eigentlich ein Gesetz gemacht wird und an welcher Stelle die Entscheidungsprozesse beeinflusst werden können. Das ist ein wichtiger Grundaspekt jeder Demokratie. Für die Entscheidungsebene Deutschland wird das durch Schulen und Medien noch einigermaßen geleistet, wenn auch längst nicht in ausreichendem Maße. Deshalb sollte auch die Landesregierung in Brandenburg die Herausforderung annehmen und Chance ergreifen, ein Mehr an entsprechenden Lehrmaterialien zur Verfügung zu stellen und Lehrpläne anzupassen. Für die europäische Ebene gibt es da noch sehr viel zu verbessern.

Es wird jetzt häufiger von einem Sozialpakt gesprochen. Ist das eine Reaktion auf das Auseinanderdriften in der EU?
Ich würde mir wünschen, dass über einen Sozialpakt nicht nur in Wahlkampfzeiten gesprochen wird. In unserer Europäischen Union wurden vor kurzer Zeit in Göteborg auf einem Sondergipfel die Säulen einer sozialen Union beschrieben. Das war eine Reaktion auf die Stimmung vor und nach der Brexit-Abstimmung. Das Ergebnis ist leider ein ausgesprochen zahnloser Kompromiss. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten, insbesondere aber die Parteien mitte-rechts des politischen Spektrums, aber auch mein Namensvetter im Finanzministerium, müssen ihre Blockade von echten sozialen Innovationen und einem europäischen Lastenausgleich nun endlich einmal aufgeben.

Nun gibt es Meinungen, dass die EU nicht reformierbar sei. Du kandidierst wieder für das EP. Welche Möglichkeiten hast Du bzw. Deine Fraktion, um die EU sozialer, transparenter und demokratischer zu gestalten?
Politik ist veränderbar - in der Europäischen Union und in Deutschland, wie in allen anderen 27 EU-Mitgliedstaaten. Wir machen das ständig. Zum Beispiel spielen Umweltschutz und Klimawandel eine viel größere Rolle als früher. das zwingt zum Umdenken - in allen Bereichen des täglichen Lebens und entsprechend von der Politik zu treffender Entscheidungen. Aber es ist noch längst nicht genug. Die patronalisierende Art, mit der z.B. Kommissionspräsident Juncker von den luxemburgischen Christdemokraten die Klimaschutzkämpferin Greta Thunberg behandelte, sprach Bände. Aber ebenso auch von deutschen Politiker*innen z.B. der FDP oder CDU/CSU. Offensichtlich wird dieser Aufschrei der Jugend einfach nicht verstanden. Das „Business as usual“ - also ein weitermachen mit Marktlogik und alleiniger Ausrichtung des Setzens von Rahmenbedingungen für das Funktionieren des EU-Binnenmarktes kann nicht mehr funktionieren, darf so nicht fortgesetzt werden. Wir brauchen im nächsten Europäischen Parlament starke Abgeordnete, die um die Bedeutung der globalen Aufgaben wissen. Ich setze mich intensiv für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen der Agenda 2030 ein. Dazu gehört ganz vorne auch in Europa die Überwindung von Armut. Das soll jedoch nicht auf Kosten von anderen geschehen, sondern in Partnerschaft mit den Gesellschaften der Welt und im Interesse der Erhaltung unserer Umwelt für uns, und alle nachfolgenden Generationen unserer Erde. Ja, die #Fridays4Future Bewegten haben recht - und was so viele Wissenschaftler*innen und einzelne Bewegungen, gesellschaftlichen Kräfte und auch politischen Akteure seit vielen Jahren ja auch betonen, aber eben nicht zum Einlenken von Politik geführt hat: Es gibt keinen Planeten B. Genau darin unterscheiden wir uns vom Egoismus und vom Nationalismus von Trump und deutschen und europäischen Rechten. Wir wollen sozialen Fortschritt. Wir wollen, dass fairer und ethischer Handel die Normalität wird. Wir wollen Frieden statt Konfrontation mit Russland und China, mit allen Ländern, weltweit. Diese Art von Politik muss Kriterium für jegliche Gesetzgebung in der EU werden, muss auch entscheidendes Maß für die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission werden.

Mögliche Alternativen zu Freihandelsabkommen

Es ist viel von „Alternativlosigkeit“ politischer Entscheidungen zu lesen. Nun bot Deine Fraktion ein Forum, um über Alternativen zu den Freihandelsabkommen zu diskutieren. Was wären die grundsätzlichen Unterschiede zu den ausgehandelten Abkommen?
Fairer Handel muss die Normalität werden. Handelspolitik muss eingebunden werden in unsere allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabenstellungen. Dazu zähle ich Frieden, sozialen Fortschritt, den Erhalt der Umwelt und der Artenvielfalt, das Aufhalten des Klimawandels. Entlang dieser Themenstellung haben wir in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Konferenzen im Europäischen Parlament organisiert. Zuletzt im Februar haben wir mehr als 100 zivilgesellschaftliche Organisationen ein Forum gegeben, um die von ihnen formulierten Ansprüche an eine zukunftsfähige Handelspolitik vorzustellen. Im Kern steht ein radikales Umdenken beim Maßstab für Erfolg. Wir müssen weg vom Wachstumsdenken. Stattdessen brauchen wir für Politiken eine soziale Fortschrittsklausel. Wir müssen lernen, den Erfolg eines Handelsabkommens daran zu bemessen, was es zur Bekämpfung von Armut, zu sozialem Fortschritt, zu Umwelt- und Klimaschutz beiträgt.
Wir brauchen Abkommen über Handel und Kooperation, mit denen wir uns gegenseitig beim Erreichen der Nachhaltigkeitsziele unterstützen. In der Überwindung von Armut liegt der Schlüssel zur Vermeidung von Konflikten und zum Aufbau einer nachhaltigen Ökonomie. Abkommen, die lediglich der Ausbeutung der einen durch die anderen erleichtern, gehören konsequent abgeschafft und durch die neue Generation von Kooperationsabkommen ersetzt.

Wem würden solche Verträge nutzen? Was wäre davon für die Bürger*innen und in den Kommunen spürbar?
Nehmen wir das Beispiel der Stadt Gent in Belgien. Gent ist 2018 zur ersten Europäischen Stadt des Fairen und Ethischen Handels gekürt worden. Das ist ein neuer Preis der EU-Kommission, für dessen Einführung ich mich in den letzten Jahren erfolgreich einsetzen konnte. Gent hat an seine sehr alte Tradition als Zentrum des Tuchhandels angeknüpft und sich dabei an neuen Werten orientiert. Heute blühen in der Stadt wieder internationale Designtreffen, basierend auf fair erzeugten und gehandelten Produkten. Die Stadt ist voller Cafés und Restaurants, die auf regionale Agrarprodukte gemischt mit fairen Produkten aus Übersee setzen. Die Bürger*innen machen mit und genießen die veränderte Atmosphäre in der Stadt, das Image blüht, die Stadt zieht immer mehr Tourismus an. In unseren Städten und Kommunen können wir unsere Ideen für eine nachhaltige Zukunft konkret umsetzen und erlebbar machen. 2020 wird es wieder eine Preisträgerin geben und ich würde mich sehr freuen, wenn es dann eine Stadt in Ostdeutschland würde.

Mit Freiwilligkeit allein wurden bisher keine vernünftigen Absichten umgesetzt. Deine Fraktion im EP wird es allein auch nicht umsetzen können. Wen könnte man für die Durchsetzung solcher Verträge gewinnen oder mobilisieren?
Wir haben im Europäischen Parlament in der letzten Legislaturperiode eine Sternstunde erlebt, als wir gemeinsam mit anderen Abgeordneten und den Kräften der Zivilgesellschaft - von „amnesty international“ bis hin zu einem Bündnis katholischer Bischöfe - gegen den Handel mit Rohstoffen aus Kriegsgebieten vorgegangen sind. In Zentralafrika, aber auch in anderen Krisenregionen geht es bei bewaffneten Konflikten oft um die Kontrolle über Minen. Wir konnten in der Europäischen Union nun gesetzlich die Pflicht für Unternehmen verankern, dass sie ihre Lieferkette kontrollieren und nachweisen müssen, dass sie ihr Coltan, Gold, Wolfram oder Zinn nicht von Warlords gekauft haben. Wenn DIE LINKE nach den Wahlen gestärkt im Europäischen Parlament sein wird, werden wir daran arbeiten, diese Pflicht auf weitere Rohstoffe auszudehnen.
Ich arbeite mit bestimmten Abgeordneten aus anderen Fraktionen auch in der ständigen Arbeitsgruppe Fairer Handel des EP, sowie in der Gruppe für verantwortliche Unternehmensführung. Der Zeitgeist muss sich ändern und darauf wirken wir gemeinsam hin. Im Europäischen Parlament sind je nach Thema wechselnde Mehrheiten möglich und erreichbar.

Du willst Dich für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis 2030 einsetzen. Wie passt das mit den Freihandels- bzw. alternativen Handelsverträgen zusammen?
Ich möchte die Nachhaltigkeitsziele, die alle Länder gemeinsam in den Vereinten Nationen vereinbart haben, zum zentralen Gradmesser für Erfolg unserer Politiken und Entscheidungen machen. Entscheidungen in Politik und Wirtschaft werden heute nach den falschen Maßstäben gefällt. Ein Anstieg des Bruttosozialproduktes oder ein Anstieg allein des Umsatzes bedeutet noch kein qualitatives und nachhaltiges Wachstum. Ich bin sogar dafür, Wachstum als Kategorie für Erfolg völlig zu streichen. Die Zukunft liegt im sozialen und ökologischen Umbau unserer Gesellschaften. Erfolg bemessen wir am sinnvollsten durch den Beitrag unserer Entscheidungen zum Erreichen der UNO-Nachhaltigkeitsziele. Konkretes Beispiel: in Bangladesch wurden inzwischen für vier Millionen Haushalte dezentrale Solarenergiemodule errichtet. Das hat 115.000 Arbeitsplätze geschaffen. Die Haushalte haben 350 Millionen Euro Ausgaben für fossile Brennstoffe vermeiden können. Das Geld kann nun in Infrastruktur und Bildung investiert werden. So geht Nachhaltigkeit. Die UNO schätzt, dass wir durch den Umbau unserer Wirtschaft zu einer nachhaltigen Ökonomie weltweit 65 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen können. Wir können 700.000 Tode in Folge von Luftverschmutzung vermeiden. Eine Wasserversorgung, die den Klimawandel überdauert, würde 360.000 Säuglingen und Kleinkindern das Überleben ermöglichen. Daran sollen wir die Qualität unserer Entscheidungen messen.

EU soll Friedensnobelpreis zu Recht tragen

Die EU ist als DAS europäische Friedensprojekt gestartet. Von wem wird die EU bedroht, dass so massiv aufgerüstet werden soll?
Richtig, mit dem Manifest von Ventotene hatten der Kommunist Spinelli und Mitstreiter 1943 in faschistischer Gefangenschaft Wege aufgezeigt, wie friedliches und freundschaftliches Zusammenleben der Völker auf dem europäischen Kontinent  nach dem furchtbarsten Krieg wieder möglich und gestaltbar sein könnte - und die europäische Integration hat seit vielen Jahrzehnten den Frieden unter den Mitgliedsstaaten der EU möglich gemacht. In all der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Zeit nach 1945, der Blockkonfrontation, des Kalten Krieges.
Offen militärisch bedroht wird die EU heute nicht, doch vor allem konservative und vor allem  rechtspopulistische Kräfte schüren Ängste angesichts unbewältigter globaler Herausforderungen, die auch durch die Wirtschaftspolitik der entwickelten Industriestaaten mit hervorgebracht werden und Auswirkungen auf Gesellschaften an allen Orten unseres Planeten haben. So wird eine „Gefährdung“ der Gesellschaften in der EU immer wieder mit dem Schicksal zur Flucht gezwungener Menschen verknüpft, wird auf die bis heute nicht gefundene gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik als Alternative die Abschottung der Außengrenzen gefordert. Mehr noch, es wird die bis heute in ihrer Gesamtheit nicht bewältigte, grundsätzliche Neuformierung von EU-Politik nach der Finanzkrise von 2009/2010 nun unter dem Ansturm populistischer, die EU negierender rechtspopulistischer und -extremer Parteien mit Blick auf das drohende Auseinanderdriften der EU-Staaten auf den Ausbau der Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen einer Verteidigungsunion orientiert. Verstärkt auch im Vorfeld des bzw. in Reaktion auf den Brexit und die „America first“-Politik des US-amerikanischen Präsidenten. Sozusagen als zusammenhaltende, und durchaus sehr verschiedene einzelne nationale Interessen in vielen anderen Bereichen ignorierende Klammer der EU. Sogenannte „gemeinsame“ Feindbilder bzw. die Verteidigung gegen selbige wurden schon immer als einende Strategie benutzt.
An Rüstung wird aber immer auch gut verdient, es ist eine wirtschaftliche Größe und die Produktion militärischer und militärisch nutzbarer (Dual use) Güter, zudem mit staatlich abgesichertem Absatz, ist fester Bestandteil marktwirtschaftlicher Realität in allen Gesellschaften.

Wenn keine unmittelbare Bedrohung besteht, warum dann die Aufrüstung bis hin zur nuklearen Bewaffnung?
Wie schon gesagt, das militärische hat einigenden Charakter und damit lässt sich viel Geld verdienen.
Die NATO, Trump und die Verpflichtung zur zweiprozentigen BIP-Investition der NATO-Mitglieder in die Rüstung sind ein weiterer Punkt. Weitere Milliarden an Euro sollen nach dem Willen der Bundesregierung in den Verteidigungshaushalt fließen, um diese absurde Vorgabe zu erreichen. Ein Irrsinn, wenn man bedenkt, wo diese Summen so viel sinnvoller investiert wären. Von Friedensdividende ist schon längst keine Rede mehr, auch nicht davon, Investitionen dieser auf Rüstung ausgerichteten Politik anders einzusetzen und in Konversionsprojekte und die Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu lenken. Denn diese brauchen ebenfalls erhebliche fingierte und materielle Mittel und derart langfristige Investitionen - aber eben als Projekte und konkreten Weg hin zu Abrüstung und dauerhafter sicherheitspolitischer Stabilität. Ganz zu schweigen davon, dass die EU-Verträge Rüstungsausgaben nicht erlauben. Und die Gelder sind auch im sozialen Bereich oder im Struktur- und Regionalpolitischen Gebiet viel besser aufgehoben, wird doch damit Vertrauen und so Stabilität gesichert, innerhalb der EU als auch in ihren Außenbeziehungen.

Entwickelt sich damit die EU zu einem Militärbündnis neben der NATO?
Ein Großteil der EU-Mitglieder sind bereits NATO-Mitglieder. Besonders wir LINKE sind gegen eine EU-Armee. Ich möchte klar sagen, dass eine Erkenntnis und Lehre aus dem II. Weltkrieg war, dass in Deutschland nur das Parlament über den Auslandseinsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten entscheiden darf. Das muss so beibehalten werden, Entscheidungsverlagerungen auf die europäische Ebene würden diesen Parlamentsvorbehalt sicher aushebeln. Die deutsche Regierung muss schon weiterhin vor dem Bundestag und damit der deutschen Öffentlichkeit erklären sollen, warum sie deutsche Soldatinnen und Soldaten ins Ausland entsenden wollen. So müssen sich die politischen Kräfte und Mehrheiten im Bundestag bekennen, ihre außen- und sicherheitspolitische Begründung für ihre Strategie und Politik im Interesse der Menschen hierzulande und in den ggf. betroffenen Konfliktgebieten liefern und Transparenz ermöglichen. Das gilt dann natürlich auch bezogen auf die EU-Entscheidungen der Bundesregierung im EU-Rat.

Was hältst Du in diesem Zusammenhang von einer europäischen Armee?
Wenig. Ich denke nicht, dass die versprochenen „Einsparungen“ an militärischen Mitteln auf der jeweiligen nationalen Ebenen von gegenwärtig ca. 20 Mrd. € real erfolgen. Vielmehr wird es bei der Doppelung bleiben, denn eine Auflösung der NATO bzw. der Austritt aller EU-Mitgliedstaaten aus diesem überlebten militärischen Bündnis wird ja nicht thematisiert. Also alles eine Mogelpackung. Für mich ist der Charakter unserer Armee sowieso zu hinterfragen.
Zudem: der Charakter heutiger militärischer Strukturen weltweit ist zutiefst fragwürdig. Wir brauchen - gerade mit der Erfahrung von Afghanistan bis hin zu Libyen - doch keine militärischen Strukturen zur Absicherung von „Regime changes“ oder anderen Eingriffsoptionen zur Einbindung unterschiedlicher Gesellschaften in jeweils eigene Interessen- und Wirtschaftsmächtigkeit. Auch hier gilt: Die Bundeswehr hat einen Verteidigungsauftrag, sie hat defensiv zu agieren und deutsche Soldatinnen und Soldaten haben für mich bewaffnet im Ausland nichts zu suchen.

Wie müsste das Friedensprojekt EU aussehen?
Dazu stellen wir fünf klare Forderungen:

  • Waffenexporte stoppen!
  • Abrüsten statt aufrüsten!
  • ein friedliches Europa mit einer klar auf Frieden ausgerichteten Agenda
  • Zivile Konfliktbearbeitung stärken!
  • In die Zukunft investieren statt in den Krieg!

Ich will eine auf die Erfüllung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN-Agenda 2030 ausgerichtete konkrete Außenwirtschafts-, Umwelt- und Entwicklungspolitik. Wir müssen unsere Wirtschaftspolitik neu strukturieren - und damit auch die gesamte Art, wie wir produzieren und konsumieren, umstellen. Allein im Bereich des internationalen Handels gilt es zum Beispiel fairen und ethischen Handel an die Stelle des „Freihandels“ zu stellen. Nur so haben die Menschen in unseren Partnerländern überhaupt eine Chance, eine eigene aufholende und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu organisieren. Das wäre schon ein wichtiger Beitrag für die Vorbeugung von Konflikten. Das klingt kompliziert, ist aber sicher viel Frieden stiftender als das Festhalten an Rüstungsproduktion, Waffenexporten in Konfliktgebiete und militärischer Logik als Ersatz für partnerschaftliche Dialogpolitik. Hier sehe ich die Hauptverantwortung, Möglichkeiten und Tagesaufgabe und zugleich die Stärken einer ihren Namen als Friedensnobelpreisträger zu Recht tragenden EU.

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